„Ich neige zu verbalem Vandalismus“

Ich bin ein bisschen aufgeregt: Gleich gehe ich zum Rhetorik-Training des studentischen Debattierclubs. Ich bewundere Menschen, die aus dem Stegreif eloquent reden und andere durch gute Argumente von ihrem Standpunkt überzeugen können, sich scheinbar mit jedem Thema auskennen und kein Herzrasen kriegen, wenn sie vor einem großen Publikum das Mikro in die Hand nehmen. Ja, ich diskutiere auch ganz gerne mal – mit Freunden in der Küche. Ich hoffe die Anderen beim Treffen sind nicht schon totale Profis! Aber das Training ist ja da, um zu lernen. Also nichts wie hin!

Im KWZ warten schon Mareike, die Präsidentin des Göttinger Clubs, und Martin, Promotionsstudent der Physik, der gerade erst nach Göttingen gezogen ist, aber schon lange debattiert. Es wird wohl niemand mehr kommen, mutmaßen die beiden, die meisten Mitglieder sind im Lernstress. Puh, ich bin also als einziger Laie unter Experten. Aber erstmal wird ganz entspannt gequatscht. Ich erfahre, dass vor allem Jura-Studenten wie Mareike im Club dabei sind. „Die sind gern mal rechthaberisch“, erzählt sie. „Außerdem muss ich denen immer wieder sagen, dass sie nicht mit dem Grundgesetz argumentieren sollen. Paragraphen sind ein Totschlagargument. Es geht eher darum, zu erklären, warum dieses und jenes im Gesetz steht, es geht um gesellschaftliche Wertvorstellungen.“ Sie hätte gerne ein paar Sozialwissenschaftler oder Philosophen dabei. Aber Martin bemerkt: „Für die Philosophen scheint es schwierig zu akzeptieren, dass es bei uns nicht um Wahrheitsfindung geht, sondern darum, wer überzeugender argumentiert. Es kann auch die Gruppe gewinnen, die eigentlich einen unpopulären Standpunkt vertritt, einfach weil sie gut argumentiert.“

Eine Debatte folgt bestimmten Regeln: Auf der einen Seite steht die „Regierung“, sie argumentiert für die vorgegebene These. Auf der anderen spricht sich die „Opposition“ gegen die These aus. Nach Bekanntgabe des Themas haben beide Teams 15 Minuten zur Vorbereitung. Die Regierung beginnt, dann wechseln sich die Teams ab, bis jedes Mitglied einmal gesprochen hat, jedes höchstens sieben Minuten. Welche Seite die überzeugenderen Argumente gebracht hat, entscheidet am Ende eine Jury. Da die Teams zugelost werden, vertritt man beim Debattieren oft eine andere Meinung als die eigene.

Das könnte schwierig für mich werden, denn ich komme eigentlich nur ins Diskutieren, wenn mir ein Thema wirklich am Herzen liegt. Aber andererseits lernt man so, Dinge aus mehreren Perspektiven zu betrachten, und die Ansichten anderer zu verstehen und zu respektieren, auch wenn man sie nicht teilt. Dann rät Mareike noch: „Mein wichtigster Tipp, den ich immer gebe: Man muss das Gegenüber ernst nehmen. Wenn man auf den anderen eingeht, versucht ihn zu verstehen, und trotzdem besser argumentiert, überzeugt das den Juror mehr, als wenn man ihm einfach nur eigene Behauptungen und Ansichten vor den Latz knallt.“ Sie selbst vergesse das oft. „Das ist wahrscheinlich auch eine persönliche Schwäche – ich neige zu verbalem Vandalismus“, grinst sie.

Jetzt geht‘s aber doch los mit einer Übung. Spontaner Themenvorschlag: 100 % Erbschaftssteuer. Bevor man überhaupt Argumente dafür oder dagegen sucht, sei es wichtig, erstmal alle von der Diskussionsfrage betroffenen Akteure zu betrachten und zu diskutieren, welche davon am stärksten betroffen, beziehungsweise am wichtigsten sei, erklärt mir Martin. Jeder Akteur wird einzeln auf einen kleinen Zettel geschrieben. Immer zwei ziehen einen Zettel und haben jeweils eine Minute Zeit darzustellen, warum eben jener Akteur besonders wichtig ist.  Die beiden zeigen mir erstmal wie es geht. Danach darf ich, muss aber nicht, entscheiden, wer von beiden überzeugender war. Ich enthalte mich. So rücksichtsvoll werden die beiden später nicht sein – und ich als eindeutiger Verlierer aus der Runde hinausgehen.

Nachdem Mareike und Martin mir einen Einblick in die Welt der Profidebattierer gegeben haben, merke ich, dass ich wohl doch eher der Küchentischdiskutierer bin. Und das nicht, weil ich in der Übung kläglich versagt habe. Ich kann mir gut vorstellen, dass man, wenn man regelmäßig an diesen Trainings teilnimmt, viele Kniffe lernt und mit der Zeit selbstsicherer wird. Aber: Ich will mir das Thema selbst aussuchen und mich beim Diskutieren nicht an Regeln halten müssen. Denn den Drang andere von meiner Meinung zu überzeugen, verspüre ich nur, wenn mir eine Sache persönlich wichtig ist. Und dann kann ich nicht sieben Minuten warten, bis ich dran bin.

Wenn du Lust hast, dir professionell streitende Studentinnen und Studenten anzusehen, jeden Mittwoch um 18 Uhr gibt es eine Debatte im VG 3.108. Wenn du dich selber einmal ausprobieren möchtest: am 17. und 24. Oktober finden Einstiegsabende statt.

 

 

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Gwendolyn Barthe, 22, studiert im Bachelor Soziologie. Beim Schreiben isst sie am liebsten Gummibärchen.

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