Das Universitätsarchiv: Der Schatz im Papendiek

Vorher: Lose Dokumentenmappen (rechts) Nachher: Archivbestände geordnet in Boxen

Die massiven Türen der Historischen SUB lassen sich nur mit viel Kraft aufdrücken, die 30 Grad sind heute mit jeder Faser des Körpers spürbar. Mein Weg führt die steinerne Treppe hoch in den pompös hölzernen Handschriftenlesesaal, der trotz seiner Schönheit immer wenig besucht zu sein scheint. Nur die technischen Geräte lassen das Jahr 2019 erahnen, ansonsten fühle ich mich wie in eine andere Zeit versetzt. Ich habe noch ein paar Minuten Zeit, bevor ich mit Herrn Berwinkel verabredet bin und schlendere durch die Regale mit altehrwürdigen Büchern.

Dr. Holger Berwinkel, Leiter des Universitätsarchiv

Holger Berwinkel ist Archivar. Seit März 2018 ist er für die Konservierung und Betreuung der Archivbestände der Universität zuständig. Als er mir zunächst in seinem Büro mehr über das Archiv erzählt, wird mir erst einmal klar, wie wenig ich darüber weiß. „Ach ja, und die alten Bücher, beeindruckend“. Im Archiv gebe es wirklich fast alles, sagt er mir, nur eben keine Bücher. Herr Berwinkels Büro ist entgegen meiner Erwartung feinsäuberlich aufgeräumt und gepflegt. Bei Archivarbeit dachte ich immer an eine Art sortiertes Chaos, mit wirren Stapeln hier und unbearbeiteten Dokumentmappen dort, hier herrscht allerdings vor allem Systematik und Ordnung. Mittlerweile kann ich mir noch weniger unter dem Archiv vorstellen, als vorher. Wo ist es denn nun, was gibt es dort und ist es genauso aufgeräumt wie dieses Büro? Ich werde immer neugieriger.

Alte Ordner

Das Archiv befindet sich im Keller der Paulinerkirche. Als wir die Treppen hinabsteigen, erschleicht sich mir für einen kurzen Moment ein Gefühl von Unbehagen –hier finde alleine nie wieder raus. Treppen und Türen, noch mehr Treppen, noch mehr Türen, von der tropischen Sommerluft von draußen spüre ich nichts mehr. Ich folge Herrn Berwinkel, nebenbei erzählt er mir ein wenig von seinem Werdegang, in Geschichte hat er promoviert und sich dann zum Archivar ausbilden lassen. Ich versuche zuzuhören und mir gleichzeitig den Weg zu merken, aber ich scheitere.

Hier unten herrscht ein eher trockenes, kühles Klima, Dokumenten-freundlich. Ein bisschen Tageslicht blitzt durch die wenigen Fenster und die alten Mauern lassen fast keine Geräusche von außen zu. Als wir den ersten Raum betreten bin ich überrascht. Dabei kann ich gar nicht genau sagen, ob es daran liegt, dass meine Vorstellungen eines Archivs schon gleich von Anfang verworfen wurden oder ob gar ein wenig Enttäuschung durchblitzt. In einem Raum so groß wie zwei normal große VG-Räume lagern auf üppigen Metallregalen riesige, alte Dokmentenmappen und vergilbte Ordner. Das ist das Archiv, ein gewöhnlicher Keller?

Die beweglichen Regale des Archivs

Doch wir gehen weiter, an den Regal vorbei. Ich möchte die Mappen gleichzeitig anfassen und in Ruhe lassen, ich habe Ehrfurcht vor den vielen Jahren, die sie dort schon verweilen. Zu meiner Begeisterung kommen wir zu einer spektakulärer aussehenden Tür, als die die wir bis hier hin passiert haben. Ich möchte nicht so weit gehen und sagen, dass Engel sangen, als er die Tür öffnete, aber ich empfand so etwas wie ein kurzzeitiges Glücksgefühl. Ich muss dazu sagen, dass ich fein säuberlich geordnete Regale liebe und der Anblick der parallel verlaufenden, bewegbaren Regale eine beruhigende Wirkung auf mich hat. In Regalen lagern gleichgroße, übereinander gestapelte Boxen aus Pappe, in denen ––wie Herr Berwinkel mir erklärt–– „Verwaltungsschriftgut“ katalogisiert wird.

Das ist es also, das Archiv. Ich freue mich, dass es nicht nur dieser große Kellerraum war, frage mich nun aber auch, was man denn unter „Verwaltungsschriftgut“, dem deutschesten Wort der Welt, verstehen kann. Die Fülle an Informationen, die auf meine Frage hin entgegen gebracht wird, übersteigt meine Fähigkeit, im Stehen Notizen zu machen. Die wichtigsten Informationen habe ich festhalten können: Nahezu alle rechtlich relevanten Verwaltungsdokumente der Universitätverwaltung, also der Leitung, Zentralen Einrichtungen, Dekanaten, Instituten und Prüfungsämter finden hier unten einen Platz. Sogar Abgangszeugnisse aus dem 18. und 19. Jahrhundert: Prompt drückt mir Herr Berwinkel das Zeugnis von Otto von Bismarck wortwörtlich in die Hand („Ist das okay dass ich das einfach so anfasse?“), Abgangsjahrgang 1833. Er sei, entgeger vieler Annahmen, ein unauffälliger Student gewesen, besagt das Zeugnis. Lesen kann ich auf diesem Stück Papier nichts, also glaube ich Herrn Berwinkels geschultem Auge. Wo wir gerade dabei sind, will er mir noch etwas zeigen. In einer hinteren Ecke sehe ich alte, riesige Bücher, von denen er eines herauszieht. Da drin irgendwo müsse es sein und ja, genau, dort: Heinrich Heines Immatrikulationseintrag. Fein säuberlich sind dort auch die Gebühren verzeichnet, die Studierende –ach was, Studenten, Stundentinnen gab es dort ja nun noch nicht– entrichten mussten. Neben Universitätsgebühren waren das Bibliotheksgebühren, einige Groschen für die Armen, den Pedell (so was wie der Hausmeister) und letztendlich für das hiesige Waisenhaus. Auch Heines Prozessakte nach seiner Duellierung, weswegen er die Universität schlussendlich verließ, kramt Herr Berwinkel hervor. „Schweinerei“ hatte Heine zu einem Kommilitonen gesagt und nach verlorenem Prozess der Stadt beleidigt den Rücken gekehrt.

Die Gründungsurkunde der Universität Göttingen

Gründungsurkunden der Universität, Matrikeleinträge, Zeugnisse und Gerichtsakten über Heine, Bismarck und andere berühmte Studierende, Personalakten der Nobelpreisträger*innen, Bauakten zu den Universitätsgebäuden, Promotions- und andere Prüfungsakten ––die Liste des Bestands ist so lang, dass ich sie mir von Herrn Berwinkel nach unserem Treffen noch mal schriftlich geben lassen musste. Insgesamt schlummern hier 2200 laufende Meter Archivgut, das jedes Jahr um ca. 40 Meter erweitert wird. Der von mir zu Unrecht als langweilig empfundene Kellerraum ist also von großem Nutzen für die Aufbewahrung der Dokumente, die es eben noch nicht in säurebeständige Mappen und ordentlich gestapelte Kartonboxen geschafft haben.

Ich kann die Masse an Informationen, an Regalen und Registerbüchern, an Kartons und Dokumentmappen gar nicht greifen. Als ich auf eine kleine Wendeltreppe zeige, erlaubt mir Herr Berwinkel, mir kurz die weitere Etage des Archivs anzusehen, was mich noch mehr überfordert. Ich verspüre das gleiche Gefühl wie mit Familien-Fotoalben, ich möchte alles anfassen, angucken, aufsaugen, inhalieren, begreifen. Tatsächlich ist es auch möglich, ja sogar gern gesehen, wenn Studierende um Einsicht einzelner Akten bitten. Zahlreiche Abschlussarbeiten seien mithilfe dieser Quellen bereits erfasst worden, sagt man mir. Material darf allerdings erst herausgegeben werden, wenn der oder die Verfasser*in seit mindestens 10 Jahren tot ist oder 100 Jahre nach der Geburt vergangen sind. Ich bin nachhaltig beeindruckt vom Archiv der Uni, kurzzeitig wünsche ich mir, mein Masterarbeitsthema so zu ändern, dass ich bitte ganz viel Zeit hier unten verbringen kann. Leider müsste ich dazu erst einen anderen Master machen. Als die schwere Tür wieder zufällt und wir wieder an den alten Dokumentenmappen den Weg in die Alte SUB aufnehmen, erzählt mir Herr Berwinkel, dass noch etwas Arbeit vor ihm und den anderen Mitwirkenden liegt, bis alles feinsäuberlich in Kartons verpackt sein wird. Zurzeit arbeite man an der Verzeichnung und Nutzbarmachung von Beständen, die aus der Nazizeit verblieben sind.

Nach der Sortierung

Ich hatte Recht, alleine hätte ich den Weg hinaus nie wieder gefunden. Auf dem Papendiek schlägt mir wieder die sommerliche Hitze entgegen. Mein kurzes Abtauchen in die Tiefen der Universität nimmt damit ein abruptes Ende, fast schon unwirklich kommt mir mein kleiner Ausflug vor. Ich muss nun selbst wieder in die Bibliothek und an meinem ganz eigenen Archivmaterial arbeiten. Und wer weiß, vielleicht landen in 200 Jahren auch unsere Chipkarten als Verwaltungsgut im Archiv und unsere Ur-Ur-Urenkel sagen lachend: „Wow, damals, als man überall abhängig von einer Karte war.“

 

Heinrich Heines Prozessakten

Neben vielen weiteren historischen Dokumenten liegen hier auch die Prozessakten von Heinrich Heine. Herr Berwinkel hat sie uns zur Verfügung gestellt, um einen Eindruck vom Archivmaterial zu bekommen.

Das Verhör Heinrich Heines durch das Universitätsgericht. Er hatte sich 1820 zum Pistolenduell verabredet, was ihm später das "Consilium abeundi" bescherte, den Verweis der Universität Göttingen.

Die Zusammenfassung der Falls durch den Universitätssyndicus und die darunter geschriebenen Stellungnahmen der einzelnen Professoren, die Mitglieder des Universitätsgerichts waren. Am Ende führten diese Stellungnahme zur Verurteilung Heines. (1/4)
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Der Untersuchungsbericht des Universitätssekretärs Willich über die vorgefallene Tat (Verabredung zum Duell) und die beschuldigten Studierenden: 1. Heine, 2. Wiebel, 3. Vallender, 4. Graf Ranzau (eigentlich „Rantzau“). "Schön sind an diesem Dokument die Größe und Sauberkeit der Schrift. Wer von den Leser*innen mal wirklich die Lektüre probieren möchte, kommt hier meines Erachtens am besten hinein", fügt Herr Berwinkel noch hinzu. (1/3)
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Jede*r kann das Universitätsarchiv benutzen, selbstverständlich auch Studierende. Die wichtigsten Bestände sind hier im Online-Katalog recherchierbar. Die Archivmitarbeiter*innen beraten gern z. B. bei der Suche nach Quellen für Bachelor- oder Masterarbeiten.

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Theresa, 26, studiert im Master North American Studies, Germanistik und Anglistik. Am liebsten schreibt, liest und organisiert sie und ist damit nicht nur beim BLUG und im Social Media Team der Uni gut aufgehoben, sondern auch als Volontärin beim Literarischen Zentrum.

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