Die Krankheit der tausend Gesichter – Studieren mit MS

Hier auf dem BLUG geht es ja immer um spannende Geschichten, praktische Tipps und interessante Hintergrundinformationen rund um die Uni Göttingen. In diesem Artikel geht es um eine Person – genauer gesagt um Judith. Sie ist 26 Jahre alt und fast fertig mit ihrem Master-Lehramtsstudium in den Fächern Mathe und Deutsch an der Georgia-Augusta. Auf sie aufmerksam geworden bin ich über Instagram, da widmet sie sich nämlich einem ganz bestimmten Thema: Multipler Sklerose.

„Copingmultiplesclerosis“ (@copingmultiplesclerosis)

Klar kommen mit Multipler Sklerose, so heißt ihr Account grob auf Deutsch übersetzt, knapp 1.800 Abonnent*innen hat er mittlerweile. „Ich habe nicht wirklich damit gerechnet, dass das doch so groß wird“, erzählt mir Judith. „Ich habe, als ich Ende 2017 meine Diagnose MS bekam, dieses zweite Profil eigentlich angelegt, um Freunde und Bekannte, die mir auf meinem privaten Account folgen, nicht mit dem Thema MS zu nerven. Außerdem kann ich jetzt sagen, wenn jemand etwas wissen will, aber ich gerade nicht darüber reden möchte: Schau mal auf Instagram nach!“. Ein großer Punkt ist für Judith aber auch der Austausch mit anderen Betroffenen auf der Plattform: „Hier in Göttingen gibt es zwar eine MS Gruppe, deren Mitglieder sind aber deutlich älter als ich“, erklärt sie. „Auf Instagram sind einfach mehr Leute in meinem Alter, die auch MS haben. Sich mit denen zu vernetzen ist für mich wichtig.“

Der Körper greift sich selbst an
@copingmultiplesclerosis

Mit ihrem öffentlich einsehbaren Profil geht es Judith zudem darum, über den Alltag mit MS zu informieren. „MS ist ja eine Autoimmunerkrankung, also da greift der Körper sich selbst an“, erklärt sie. „Es sind Entzündungen im Zentralen Nervensystem, das aus Gehirn und Rückenmark besteht.“ Wenn man sich die Nervenbahnen wie ein Kabel mit Isolierung vorstelle, sagt Judith, könnte man MS recht einfach erklären: Wenn nämlich die Isolierung an so einem Kabel kaputt geht, funktioniert es nicht mehr richtig. So ähnlich passiere das auch mit den Nervenbahnen im Körper; die Reize kommen teilweise nicht mehr richtig an, da die äußere Schicht der Nerven angegriffen wird. „Darum stolpere ich halt manchmal, weil ich mein Bein nicht kontrollieren kann, oder mir fällt das Handy runter, weil ich in dem Moment nicht richtig zugreifen kann.“

Die Krankheit der tausend Gesichter

Die Reaktionen von ihren Mitmenschen sind dabei ganz unterschiedlich, wenn sie erfahren, dass Judith an MS erkrankt ist. „Häufig sind die Leute erst mal betroffen und wissen nicht so richtig was damit anzufangen“, so Judith. „Einigen kommen dann so Vorurteile in den Kopf, wie zum Beispiel, dass ich keine Kinder bekommen könnte oder bald im Rollstuhl lande.“ Das läge vor allem daran, dass viele einfach nicht genau wüssten, was MS ist. „Ich mache da aber niemandem einen Vorwurf“, sagt Judith. „Ich kenne schließlich auch nicht alle chronischen Krankheiten.“ Den Vorurteilen, mit denen Menschen mit MS immer wieder konfrontiert sind, hat Judith übrigens auch ein ganzes „Story-Highlight“ auf Instagram gewidmet. MS ist dabei auch noch ein medizinisches Mysterium – so ganz genau weiß die Wissenschaft nämlich nicht, wieso diese Krankheit eigentlich entsteht. „Dass ich im Rollstuhl lande, ist auch überhaupt nicht gesagt“, erklärt Judith. „Die Medizin macht ja immer weiter Fortschritte und außerdem verläuft MS auch bei jedem und jeder Betroffenen anders. Darum heißt sie auch die Krankheit der tausend Gesichter.“

Die MS und das Studium
@copingmultiplesclerosis

Die chronische Krankheit sieht man Judith äußerlich nicht an; das bedeutet aber nicht, dass sie sie nicht im Alltag und vor allem auch im Studium beeinträchtigt. „Ich bin auch ein ziemlich ehrgeiziger Mensch“, verrät Judith. „Ich lege schon viel Wert drauf, immer die bestmögliche Leistung zu erbringen und die bestmöglichen Noten zu haben.“ Das ist aber mit der MS gar nicht so einfach. „Manchmal braucht mein Körper einfach Ruhe“, sagt sie, „zum Beispiel bekomme ich Augenschmerzen, wenn ich zu lange auf einen Bildschirm schaue, oder mein Bein wird taub. Das sind dann so Symptome, die ich mal während eines Schubs hatte, die dann wieder aufflammen.“ Judith erzählt, dass es für sie manchmal schwierig ist zu akzeptieren, dass sie in einer solchen Phase zum Beispiel statt sechs Stunden eben nur eine Stunde an der Hausarbeit sitzen kann. „Das zieht halt alles in die Länge und das deprimiert mich schon.“ Wichtig sei dann, sich Unterstützung zu holen: „Bei der PSB, also der Psychosozialen Beratungsstelle, findet man immer einen guten ersten Anlaufpunkt“, empfiehlt Judith.

Unterstützung und Beratung: Barrierefrei studieren

Als sie die Diagnose MS bekommen hat, hat sich Judith  bei der Uni informiert, welche Möglichkeiten und Unterstützungsangebote es für sie gibt (mehr Infos z.B. bei Barrierefrei Studieren). „Da war ich dann am Wilhelmsplatz und habe mich beraten lassen, von der Ansprechpartnerin für Studierende mit chronischen Erkrankungen“, sagt sie. „Da habe ich erfahren, dass ich zum Beispiel einen Nachteilsausgleich in Anspruch nehmen kann. Das bedeutet beispielsweise mehr Zeit für eine Klausur, eine zusätzliche Lampe auf dem Tisch, sowas halt.“ Wenn mitten in einer Klausur dann ihre Hand zu zittern beginne oder ihr Auge wegen des entzündeten Sehnervs schmerze, sei das schon ganz hilfreich, sagt sie. „Es ist nur mit sehr viel Bürokratie verbunden“, beschreibt Judith das Antragsverfahren. „Und es hilft mir zum Beispiel beim Thema Anwesenheitspflicht überhaupt nicht weiter. Da gibt es einfach noch keine guten Lösungen.“

Problem Anwesenheitspflicht

Generell ist die Anwesenheitspflicht bei Studierenden in Göttingen schon lange ein Thema. Während es an der Sowi-Fakultät keine gibt, sieht es bei vielen anderen Fakultäten anders aus. An der Philosophischen Fakultät, wo Judith Deutsch studiert, darf man beispielsweise nur zwei Mal pro Seminar fehlen. Für jede weitere Abwesenheit muss dann eine Extra-Leistung erbracht werden. „Grundsätzlich finde ich das ok“, erzählt Judith, „und ich finde es auch wirklich wichtig, dass man regelmäßig zu Seminaren geht. Aber ein Studium sollte auch eigenverantwortlich ein, sodass man selber entscheiden kann, ob man zu einer Sitzung hingeht oder nicht. Wenn man dann zu oft fehlt und den Stoff nicht nacharbeitet, schreibt man halt eine schlechtere Note in der Klausur.“ Keine Anwesenheitspflicht hätte ihr vor allem insofern geholfen, dass sie nicht zu jedem und jeder Dozent*in hätte hingehen müssen, um zu erklären, dass sie MS habe und darum vielleicht öfter fehlen werde. Außerdem kostet so eine Extraleistung natürlich viel Zeit, sagt Judith. Den Stoff muss man ja eh nacharbeiten und dann vielleicht noch einen Essay schreiben – das sind deutlich mehr als die 90 Minuten Seminar, die man verpasst hat.

Online-Seminare als Alternative?

Momentan kann wegen der Corona-Pandemie sowieso niemand wirklich da sein – viele Veranstaltungen haben darum digital stattgefunden. Auch Judith hatte noch zwei Seminare, die sie komplett online absolviert hat: „Online-Seminare helfen natürlich insofern, dass ich mich nicht extra auf den Weg machen musste, auch, als es mir mal nicht gut ging. Ich habe aber trotzdem alles mitbekommen obwohl ich mich im Hintergrund gehalten habe“, erzählt Judith. Als Alternative zur physischen Anwesenheit, wenn das gerade mal nicht möglich ist, findet sie die digitale Teilnahme an Veranstaltungen gut – es ist nur die Frage, ob diese Möglichkeit auch nach der Corona-Pandemie so weiterbestehen wird.

Beeinträchtigte Studierende in der Bringschuld

Bei der Hochschulgruppe der Jusos hat Judith sich während des letzten Wahlkampfes dafür eingesetzt, dass Themen wie die Abschaffung der Anwesenheitspflicht und eine inklusivere Hochschulpolitik mit auf der Agenda stehen. Sie gibt auch zu bedenken, dass mit dem jetzigen System Studierende mit einer chronischen Erkrankung oder einer anderen Beeinträchtigung immer in der Bringschuld sind. „Nicht jede und jeder fühlt sich wohl damit, einem völlig Fremden immer wieder zu erklären, dass man krank ist. Das ist eigentlich eine sehr persönliche Angelegenheit“, sagt sie. Obwohl sie selbst damit kein Problem hat, weder im realen Leben noch online – auf Instagram geht sie offen mit ihrem Leben mit MS um. Dort teilt sie ihr Befinden, wenn es ihr gut geht, aber auch, wenn sie wieder einen Schub hatte und es gerade nicht so läuft, wie sie sich das gewünscht hätte. „Ich informiere mich auch viel über solche Sachen wie Ernährung, neue medizinische Erkenntnisse und so weiter“, sagt sie, „und das teile ich dann auch auf Instagram.“ Die Resonanz sei dabei immer gut, verrät Judith, auch, wenn es um persönlichere Dinge geht. „Wenn ich zum Beispiel teile, dass ich keinen so guten Tag hatte, dann schreiben andere betroffene Leute aufmunternde Nachrichten, oder auch umgekehrt, wenn zum Beispiel was gut läuft, freuen die anderen sich mit mir und erzählen auch von ihren Erlebnissen.“

Fundraising durch Sport
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Auffällig an Judiths Account ist, dass sie super sportlich ist. Insbesondere das Radfahren hat es ihr angetan; seit einiger Zeit besitzt sie ein Rennrad und legt damit immer wieder große Strecken zurück. „Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen klischeehaft“, sagt sie, „aber seit der Diagnose versuche ich nicht mehr zu denken „ich muss zum Sport“, sondern „ich kann zum Sport“. Es ist ja nicht sicher, wie es in zehn Jahren dann aussieht. Außerdem ist es wichtig  für Leute mit MS, in Bewegung zu bleiben, damit der Körper die Bewegungsabläufe verinnerlicht hat.“ Judith verbindet den Sport, den sie macht, gleich auch noch mit Fundraising: „Ich wollte Geld für eine Organisation sammeln, die im Bereich Multipler Sklerose forscht und die das Geld auch nur für die Forschung und nicht für andere Dinge einsetzt“, sagt Judith. Die hat sie dann auch gefunden: Auf „Kiss goodbye to MS“ hat sie sich sportliche Ziele gesetzt. Für deren Erreichung kann man Judith mit einer Spende an die Organisation belohnen.

Pläne für die Zukunft

Als ich mich mit Judith getroffen habe, um über ihren Instagram-Account zu sprechen, hatte sie gerade angefangen, an ihrer Masterarbeit zu schreiben. Diese ist jetzt fast beendet – fürs Lehramt, wie es ein Master of Education eigentlich vorsieht, hat sie sich allerdings nicht entschieden. „Ich wollte gerne Lehrerin am Gymnasium werden“, sagt sie, „aber das ist kein guter Beruf, wenn man an MS erkrankt ist. Man kann nicht einfach langsamer machen, wenn man es gerade braucht, da ist ja alles durchgetaktet.“ Die Entscheidung sei ihr nicht leicht gefallen, sagt sie. Aber einen alternativen Plan hat sie trotzdem schon: Zuerst soll es einige Zeit nach Limerick in Irland gehen. Hier hat sie ein Stipendium bekommen, womit sie Deutsch an der Universität unterrichten kann. Danach will sie vielleicht promovieren: „Ich interessiere mich vor allem für den Bereich Leichte Sprache“, verrät sie. „Hier gibt es noch nicht so viel Forschung, das wäre auf jeden Fall etwas, womit ich mich beschäftigen würde. Interessante Themen für eine Promotion wären für mich außerdem Bildungsgerechtigkeit und Diversity.“  Wofür Judith sich entscheidet, wird sich also noch zeigen. Die MS hat ihr Leben ganz schön umgekrempelt, bilanziert Judith am Ende unseres Gesprächs. Viele Dinge muss sie neu bewerten und annehmen lernen, das falle ihr wegen ihres Ehrgeizes oft nicht so leicht. „Das wichtigste ist aber, dass man sich Hilfe holt, wenn man sie braucht“, sagt sie. „Und wer über das Thema reden möchte, der oder die kann mich immer gerne anschreiben!“

Wenn ihr mehr über Judith erfahren wollt, dann könnt ihr das entweder auf ihrem Instagram-Accout oder auf ihrem Blog – oder ihr schaut einfach mal auf ihrer Fundraising-Page vorbei!

 

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